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Expressionismus

Dem Darmstädter Expressionismus kommt innerhalb des Expressionismus in Deutschland eine Sonderstellung zu. Grundlage für eine künstlerische Atmosphäre in DA schuf um 1900 Großherzog Ernst Ludwig mit der Gründung der Künstlerkolonie auf der Mathildenhöhe. Die zum Teil verwirklichten Reformbestrebungen von 1901 entsprachen nicht mehr den Vorstellungen der jungen Generation, die sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs in einer völlig veränderten gesellschaftlichen und politischen Situation befand. Die Besonderheit des Darmstädter Expressionismus lag in der Jugendlichkeit ihrer Mitglieder. 1915 fand sich in der Vereinigung „Die Dachstube“ eine Gruppe literarisch und künstlerisch interessierter Menschen zusammen, die den Spätexpressionistenkreis in DA begründeten. Sie wollten Kunst und Literatur revolutionieren und die Welt mit neuen politischen Ideen verändern. Enge Verbindungen zu Frankreich, die Vertretung der Clarté-Bewegung und starkes Eintreten für ein geeintes geistiges Europa waren die Ziele des Dachstuben-Kreises. Im selben Jahr gab der Kurt Wolff Verlag die ersten Novellen des Darmstädter Schriftstellers Kasimir Edschmid heraus, der damit Hauptprotagonist der expressionistischen Prosa in Deutschland wurde. Neben ihm gehörte der Schriftsteller Wilhelm Michel zu den Verfechtern der jungen Kunst und Literatur in DA, das noch einmal zum fruchtbaren Boden für aktuelle Kunst wurde: Nacheinander erschienen als Organ der Darmstädter Expressionisten die beiden Zeitschriften „Die Dachstube“ und „Das Tribunal“.

1919 gründeten Edschmid und Carl Gunschmann die „Darmstädter Sezession“ als westdeutsche Künstlervereinigung. Das Hauptpotenzial ihrer Mitglieder schöpfte die Künstlergruppe aus dem Dachstuben-Kreis. Nachdem die erste Ausstellung im Gründungsjahr viel Erfolg brachte, initiierte die Sezession 1920 eine überregional bedeutende, groß angelegte Ausstellung, die fast alle europäischen Strömungen des Expressionismus bedachte. Rund 700 Werke zeitgenössischer Kunst waren in DA zu sehen. Der Kunsthändler Karl Lang kam mit dem Kunsthistoriker Karl Theodor Joel von München nach DA. Beide handelten mit Kunst der Zeit und gaben viel beachtete Mappenwerke mit expressionistischer Grafik heraus. Hermann Kaiser gründete zusammen mit Karl Heinrich Ruppel, Wilhelm Michel und Theodor Haubach u. a. die „Freie Gesellschaft für Musik“. Zeitgenössische Musik der Darmstädter Komponisten Hans Simon und Wilhelm Petersen wurde ebenso aufgeführt wie Kompositionen von Paul Hindemith und Arnold Schönberg. Herausragende Bedeutung erlangte das zeitgenössische Theater. Gustav Hartung gelang es mit zahlreichen Erstaufführungen expressionistischer Autoren wie Carl Sternheim, Fritz von Unruh und Kasimir Edschmid das Darmstädter Theater zeitweilig zu einer der wichtigsten Bühnen der jungen Republik zu machen. Im neuen Stilwillen wirkten die künstlerischen Kräfte zusammen: Dichterlesungen junger progressiver Schriftsteller und Vortragsabende zur modernen Kunst standen auf der Tagesordnung. Die Literaten, Künstler und Theaterleute trafen sich zu heftigen Diskussionen im Café Oper am Landestheater. Mit offenen Galerien und Lesebuchhandlungen für zeitgenössische Kunst und Literatur, mit aktuellem Theater und neuer Musik wurde DA zum Angelpunkt junger und jüngster Kultur in Hessen und weit darüber hinaus. Auch wenn DA nicht zu den Hauptzentren des deutschen Expressionismus gehört, so steht es mit einem eigenständigen Beitrag gleichrangig neben Hamburg, Kiel, Hannover und Bonn.

Lit.: Netuschil, Claus K.: Die Graphik des Darmstädter Expressionismus 1915-1925, Darmstadt 1995; Gesamtkunstwerk Expressionismus – Kunst, Film, Literatur, Theater, Tanz und Architektur 1905 bis 1925, Ausstellungskatalog Institut Mathildenhöhe, Ostfildern 2010; Expressionismus im Rhein-Main-Gebiet: Künstler, Händler, Sammler, (Hrsg.) Museum Giersch, Frankfurt am Main 2011.