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Kirchenkampf

Als „Kirchenkampf“ bezeichnet man in der Regel die auch innertheologische Kämpfe z. B. zwischen liberalem Neuprotestantismus und Dialektischer Theologie und auch nichttheologische Faktoren beinhaltenden Auseinandersetzungen zwischen Nationalsozialismus und Kirchen und die dadurch ausgelösten Spannungen in der Kirche selbst, die viele Bereiche des kirchlichen Lebens ergriffen und zur Bildung verschiedener Richtungen und Parteiungen führten. Auch in DA zeigte sich ein breites Spektrum von gewaltsamen Aktionen bis hin zu alltäglichen Verweigerungen und Nonkonformität, bei der auch das soziokulturelle Volkskirchenmilieu eine Rolle spielte. Man lebte, wenigstens partiell, auch nach anderen Wertvorstellungen und Mustern, als sie von den damaligen Machthabern gewollt waren (z. B. Gottesdienstbesuch, kirchliche Erziehung, Inanspruchnahme kirchlicher Amtshandlungen wie Taufe, Konfirmation, Trauung, Beerdigung statt angebotener NS-Ersatzhandlungen).

Im März 1933 verkündete Staatspräsident Ferdinand Werner, Christentum und Deutschtum sollten die Leitsterne seiner Regierung sein. Am 16.06.1933 formierte sich, rechtzeitig vor den von der Reichsregierung angesetzten Neuwahlen der kirchlichen Körperschaften am 23.07.1933, die Ortsgruppe der „Glaubensbewegung Deutsche Christen“ (oft „DC“ abgekürzt); Einheitslisten sicherten dann ihre Mehrheit in den Gremien. Dagegen protestierte bereits am 27.07.1933 ein Kreis hessen-darmstädtischer Theologen (aus DA die der christlichen Studentenverbindung „Wingolf“ angehörenden Friedrich Grünewald, Hickel, Köhler, Weiß); es ist für Heinrich Steitz die früheste Urkunde vom Anfang der „Bekennenden Kirche“ (BK) in der im Herbst 1933 aus den früheren selbstständigen Landeskirchen Hessen[-Darmstadt], Nassau und Frankfurt/Main hervorgegangenen „Ev. Landeskirche Nassau-Hessen“. Als Reichsbischof Ludwig Müller am 06.02.1934 statt des erwarteten Darmstädter Prälaten Wilhelm Diehl den Wiesbadener Pfarrer Lic. Dr. Ernst Ludwig Dietrich (geb. in Groß-Umstadt, Mitglied der NSDAP, aber nicht der DC; theologisch war er eher liberal im Sinne der religionsgeschichtlichen Schule, die sich aber von der an der Aufklärung und dem Liberalismus orientierenden „alten“ liberalen Theologie unterschied) ernannte und dieser das Führerprinzip in der Kirche rigoros handhabte, wuchs auch in DA ein (später dann vor allem theologisch begründetes) widerständiges Verhalten einer Reihe von Pfarrern und Gemeinden gegen das neue Kirchenregiment, das dieses mit Disziplinarmaßnahmen und zuweilen auch mit staatlich-polizeilicher Unterstützung (z. B. Strafversetzungen von Pfarrern [in DA: Marx, Hickel, Goethe], Überwachung durch die Gestapo, Geldstrafen, Verhaftungen) zu brechen versuchte. Am 07.12.1933 gründete Pfarrer Rudolf Marx (Johannesgemeinde) den Hessischen Pfarrernotbund, aus dem im Herbst 1934 die Bekennende Kirche Nassau-Hessen hervorging. Neben dem Elisabethenstift war vor allem Arheilgen (Pfarrer Karl Grein) ein Hort der BK, in der auch Laien wie Rektor Johannes Stoll und der spätere OB Ludwig Metzger führend tätig waren. Längerfristig gehörten höchstens 3 der damals 16 Darmstädter Pfarrer zu den DC, die in sich – wie übrigens auch die BK – allerdings plural war: Neben völkischen spielten auch aus dem Liberalismus und der Erweckung kommende volksmissionarische und diakonische Impulse eine wichtige Rolle. Die eher volkskirchlich-seelsorgerlich orientierte, an den „ethischen Irrlehren“ der DC mehr als an abstrakten lehrhaften Fragen interessierte BK in der ehemaligen hessen-darmstädtischen Landeskirche unterschied sich von mehr preußisch grundierten Richtungen (z. B. in Nassau, Frankfurt/Main). Bereits im November 1933 war der Höhepunkt der DC überschritten, was partielle örtliche Konflikte ( Evangelische Woche; Karl Grein) allerdings nicht ausschloss. Nach dem Zusammenbruch 1945 waren es vor allem die Darmstädter BK-Pfarrer Wilhelm Weinberger, Karl Grein und Rudolf Goethe, welche die Initiative zum Neuaufbau der Hessischen Landeskirche ergriffen.

Gegenüber der Vorordnung einer eher kirchennah-dogmatisch orientierten Darstellung der Kirchenzeitgeschichte mahnt heute eine sich nicht als „Heilswissen“, sondern als „Bildungswissen“ verstehende „Allgemeingeschichte“ die Behandlung des Kirchenkampfthemas jenseits theologisch-kirchlicher Vorsteuerungen an. Es könne nicht übersehen werden, dass bei den Auseinandersetzungen öfters nicht nur Glaubensinhalte und theologische Diskurse (z. B. Kampf der „Dialektischen Theologie“ Karl Barths gegen den „Neuprotestantismus“ der Aufklärung und des Liberalismus), sondern z. B. auch soziale, milieubedingte, orts- und familienpolitische Angelegenheiten sowie herkömmliche örtliche religionskulturelle Gegebenheiten eine wichtige Rolle spielten. Hinterfragt wird auch eine generelle Deutung des „Kirchenkampfes“ als Widerstand gegen das NS-Regime.

Lit.: Dokumentation zum Kirchenkampf in Hessen und Nassau, 9 Bde., Darmstadt 1974-1996; Schlink, Edmund: Der Ertrag des Kirchenkampfes, Gütersloh 1947; Steitz, Heinrich: Geschichte der EKHN, Marburg 1977; Dienst, Karl: Darmstadt und die evangelische Kirchengeschichte in Hessen, Darmstadt 2007; Ders.: Politik und Religionskultur in Hessen und Nassau zwischen ‚Staatsumbruch‘ (1918) und ‚Nationaler Revolution‘ (1933), Frankfurt/Main 2010; Hermann Otto Geißler: Ernst Ludwig Dietrich (1897-1974). Ein liberaler Theologe in der Entscheidung, Darmstadt 2012.