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Darmstädter Gespräche

Die Darmstädter Gespräche waren auch über DA hinaus erfolgreiche Versuche, nach der Barbarei des Zweiten Weltkriegs neue geistige Standorte auszuloten und zu diskutieren. Sie stießen in der Bevölkerung und in Fachkreisen bundesweit auf eine hohe Resonanz, weil sie das drängende Bedürfnis nach Erneuerung und nach Werten, auf denen die entstehende demokratische Gesellschaft aufbauen konnte, mit Inhalt füllten. Das erste Gespräch fand 1950 statt, ihm folgten bis 1975 zehn weitere Gespräche. OB Ludwig Engel berief auf Anregung des Leiters der Kulturverwaltung Wolfgang Steinecke ein Bürgerkomitee zur Vorbereitung. Bereits das erste Darmstädter Gespräch „Das Menschbild in unserer Zeit“, bei dem in erhitzten Debatten über Kunst und ihren Weg in die Abstraktion gestritten wurde, fand in der Bevölkerung ein lebhaftes Echo und wurde in der Presse der Bundesrepublik bis in die Provinzzeitungen zur Kenntnis genommen und als geistiges Ereignis gewertet. Die Teilnehmer belegen schon in der Aufzählung, wie hochkarätig die Gesprächsrunde besetzt war: Theodor W. Adorno, Willi Baumeister, Gotthard Jedlicka, Hans Sedlmayr. Ausgangspunkt für die Streitgespräche war die gleichzeitig stattfindende Ausstellung der Neuen Darmstädter Sezession.

1951 diskutierte man unter dem Thema „Mensch und Raum“ mit Leidenschaft und gleichem Publikumsinteresse. Die dazugehörige Ausstellung präsentierte 11 Entwürfe für Meisterbauten bekannter Architekten wie Max Taut, Hans Schwippert oder Hans Scharoun. Es war ein Merkmal der Gespräche, dass sie von Ausstellungen begleitet wurden und nicht in der Theorie verhaftet blieben. Mehrere dieser Entwürfe wurden ausgeführt und spielen als Meisterbauten bis heute eine Rolle im Stadtbild. Meist standen Meinungen unüberbrückbar gegeneinander und spiegelten die unterschiedlichen geistigen Ansätze zur Bewältigung der Nachkriegszeit. Auch diese Gegensätze und der leidenschaftliche Streit trugen zur Spannung bei, die die Gespräche bei den Zuhörern und der Presse auslösten. Auch das sei am Beispiel des Themas „Mensch und Raum“ aufgezeigt: neben den Architekten diskutierten namhafte Philosophen wie Theodor W. Adorno und Max Horkheimer von der Frankfurter Schule, oder als ihr Gegenpol Martin Heidegger, außerdem der Spanier José Ortega y Gasset, Herbert Marcuse und Robert Jungk. Im Publikum spürte man den Kulturhunger der Nachkriegszeit, die Suche nach neuen Glanzpunkten und nach geistiger Erneuerung vor der Kulisse einer zerstörten Stadt in eine Entwicklung, die nicht nur die äußere Zerstörung überwinden sollte, sondern auch die zwölfjährige Barbarei des Nationalsozialismus.

Aufbruchsstimmung und Begeisterung für Lösungsansätze, die die Referenten und Disputanten der Darmstädter Gespräche anboten, hielten auch bei den nachfolgenden Gesprächen an. „Mensch und Technik“ 1952 (auch hier muss man die begleitende Ausstellung hervorheben) forderte ein neues Design und neue Industrieformen und führte zur Gründung des Rates für Formgebung mit Sitz in DA. 1953 folgte „Individuum und Organisation“. Das Darmstädter Gespräch „Theater“ 1955 brachte eine besonders lebhafte Diskussion im Publikum, bedingt durch die zu der Zeit in der Stadt mit Für und Wider heiß diskutierten Aufführungen Gustav Rudolf Sellners in der Orangerie. Beim sechsten Gespräch 1958 „Ist der Mensch messbar“ und beim siebten Darmstädter Gespräch 1960 „Der Mensch und seine Meinung“ spürten die Veranstalter, dass im Publikum und in der Presse das Interesse nachließ und setzten die Gespräche erst nach dreijähriger Pause 1963 mit dem Thema „Angst und Hoffnung in unserer Zeit“ fort. Die sich etablierende Wohlstandsgesellschaft ließ das Nachholbedürfnis und den Drang hin zur Antworten gebenden Kultur schrumpfen. Die dazugehörige, beeindruckend von Bernd Krimmel konzipierte Ausstellung „Zeugnisse der Angst in der modernen Kunst“ schuf erneut Glanzpunkte. Die Neuorientierung vieler Jugendlicher weg von den Autoritäten und ihren Binnen-Diskussionen hin zu der Außerparlamentarischen Opposition und dem Wendejahr 1968 veränderten die Veranstaltungen von 1966 „Der Mensch und seine Zukunft“ und 1968 „Mensch und Menschenbilder“. Man fürchtete Demonstrationen. Ein junger Zuhörer forderte die Auflösung des Podiums in Gruppendiskussionen mit dem Publikum.

Als man 1975 eine Fortsetzung der Gespräche mit dem Thema „Realismus und Realität“ unternahm, blieb der Publikumsandrang aus. Wer Diskussionen verfolgen wollte, tat dies nun vorwiegend am Fernsehgerät, damit konnten die Gespräche nicht mehr konkurrieren. So formulierte es jedenfalls ein Stadtverordnetenprotokoll (15.12.1977). Erst 1995 fand ein neuer Versuch statt: „Die prozessuale Stadt“. Inzwischen waren die ersten Darmstädter Gespräche zu Legenden geworden und das neue Gespräch konnte nur schwer dagegen bestehen. So muss man die Bedeutung dieses Gesprächs an der Verwirklichung der in diesem Zusammenhang vorgestellten Planung für die Weststadt messen. 2001 gab es das 13. Darmstädter Gespräch „Die Gesellschaft im 21. Jahrhundert“, das es ebenfalls schwer hatte, gegen die Legende anzugehen und sein Publikum vorwiegend unter den Studenten der TU Darmstadt und unter Fachleuten fand, obwohl die soziologisch geprägte Binnen-Diskussion der Wissenschaftler es in fünf Foren vermochte, brennende Themen wie die Globalisierung anzureißen. Zu allen Darmstädter Gesprächen sind Dokumentationen und Ausstellungskataloge erschienen.

Lit.: Dürr, Thomas: Bürgerliches Selbstverständnis im Wandel. Öffentliche Gesprächskreise zu „Zeitfragen“ in Westdeutschland, 1950-1963, Freiburg 2001.