Stadtlexikon Darmstadt

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Grenzgang

Die regelmäßige Kontrolle der Darmstädter Gemarkungsgrenzen und der Grenzsteine hat wohl schon in frühester Zeit stattgefunden. Der Grenzgang diente in erster Linie dazu, die Vollständigkeit und Ordnungsmäßigkeit der Grenzmarkierungen zu prüfen und festzustellen, ob Steine versetzt wurden oder beschädigt waren. Die Begehung war immer verbunden mit uralten Ritualen. Alte Leute nahmen teil, die über die alten Grenzsteine und den Grenzverlauf Auskunft geben konnten, und Kinder oder Jugendliche, die sich die Lage der Steine und den Grenzverlauf für die Zukunft einprägen sollten. Sie wurden häufig geohrfeigt oder an den Ohren gezogen, damit sie die Lage der Grenzsteine niemals vergaßen, bekamen aber auch Belohnungen. In der Stadtrechnung 1551 heißt es: „21 albus zum Vertrinken, als der Grenzstein zwischen hier und Arheilgen neu gesetzt wurde, und 5 albus für die Buben zum Vertrinken, die mit waren zum Gedächtnis.“ Der Grenzgang wurde von Musik und auch von der Bürgerschaft begleitet, erhielt schon damals Volksfestcharakter, zumal auch zwischendurch und zum Abschluss kräftig getafelt und getrunken wurde. Das älteste erhaltene Grenzgangprotokoll aus dem Jahr 1606 befasste sich mit der Grenze des Darmstädter Walds zur Dieburger Mark. Weitere Protokolle liegen aus den Jahren 1628, 1710 und 1782 vor. In den Jahren ab 1770, als die Darmstädter Gemarkung neu vermessen wurde, beschäftigte die Stadtverwaltung sechs Steinsetzer. 1841 bis 1845 wurde die gesamte Darmstädter Gemarkungsgrenze von dem Geometer Balzer beschrieben, vermessen und gezeichnet. Nach dieser erstmaligen Kartierung wurde der jährlich notwendige Grenzgang überflüssig und nicht mehr durchgeführt.

Ab 1888 finden sich Einladungen, Programme und Teilnehmerlisten zu Grenzrundgängen der Stadtverordneten (im 19. Jahrhundert auch Waldrundgänge genannt), die offensichtlich die alte Tradition wieder aufleben ließen. In der Folgezeit fand der – jetzt der Repräsentation dienende – Grenzgang regelmäßig im Herbst statt. Er wurde angereichert durch kleine Theaterszenen, von Mitgliedern der Stadtverwaltung und des Landestheaters aufgeführt. Zum Frühstück gab es Wurstweck und Bier, zum Mittagessen meist Hirschbraten. Teilnehmer waren Stadtverordnete, Mitglieder der städtischen und Landesbehörden und Gäste. Die Nationalsozialisten instrumentalisierten den Grenzgang seit 1933 für ihre Ziele. 1914 bis 1918 und 1939 bis 1944 fand kein Grenzgang statt. Am ersten Nachkriegs-Grenzgang am 17.11.1945 (Böllenfalltor – Prinzenberg – Melittabrunnen – Kühler Grund – Mühltal – Eberstadt) nahmen auch Vertreter der Militärregierung teil. Seitdem findet der Grenzgang regelmäßig statt, seit 1982 für die ganze Bevölkerung und nicht mehr im Herbst, sondern am dritten Samstag im Juni. Bereits seit den 1970er Jahren wurden die Darmstädter Partnerstädte zunehmend eingebunden.

Am 22.11.1950 ließ der Gewerbeverein Arheilgen den mit der Eingemeindung beendeten Grenzgang der Arheilger Gemeinderäte wieder aufleben. Anfangs gingen bis zu 400 Teilnehmer am Buß- und Bettag die Grenze ab, später an einem Sonntag im Oktober, seit 1983 im Mai oder Juni. Seit 1995 findet der Grenzgang auch für Radfahrer statt. Auch in Eberstadt ließ der Gewerbeverein seit dem 19.10.1969 die Tradition des Grenzgangs, an dem häufig mehr als 500 Menschen teilnahmen, wieder aufleben. Seit 2003 übernimmt die Bezirksverwaltung die Organisation. In Wixhausen veranstaltet ebenfalls die Bezirksverwaltung seit der Eingemeindung 1977 wieder einen Grenzgang, der am Buß- und Bettag, seit 1996 am Tag der deutschen Einheit stattfindet. In Bessungen fand seit 1963 bis Mitte der 1980er Jahre am Kerbesonntag ein vom Kerbeausschuss veranstalteter Grenzgang statt. Zum 1000-jährigen Ortsjubiläum 2002 nahm die Bürgeraktion Bessungen/Ludwigshöhe diese Tradition wieder auf und veranstaltet seitdem jährlich einen Bessunger Grenzgang. Während der Martinskerb kann man regelmäßig an einem Grenzgang durch das Martinsviertel teilnehmen, und seit 1991 führte beim Altstadt- bzw. Marktplatzfest der Altstadt-Grenzgang an den Grenzen des früheren historischen Stadtkerns vorbei. Der Bezirksverband Waldkolonie veranstaltete am 03.09.1979 erstmals einen Grenzgang durch die Waldkolonie mit rund 400 Teilnehmern. Die Veranstaltung, die nach wenigen Jahren eingestellt wurde, erlebte im Mai 2004 eine Neuauflage. Auch in der Heimstättensiedlung finden sporadisch Grenzgänge statt.

Lit.: Walther, Philipp A.: Darmstadt, wie es war und wie es geworden ist. Neue Bearbeitung des »Darmstädter Antiquarius«, Darmstadt 1865, S. 26f.; Walther, Philipp A.: Darmstädter Historische Kleinigkeiten, Darmstadt 1879, S. 21f., 236f.; Darmstadts Geschichte. Fürstenresidenz und Bürgerstadt im Wandel der Jahrhunderte, von Friedrich Battenberg, Jürgen Rainer Wolf, Eckhart G. Franz, Fritz Deppert. Gesamtredaktion: Eckhart G. Franz, Darmstadt 1980, 2. Aufl. 1984, S. 274.