Stadtlexikon Darmstadt

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Stadtbibliothek

Im Jahr 1879 eröffnete der Darmstädter Volksbildungsverein eine „Volksbibliothek verbunden mit Lesezimmer“. Die Nutzer waren in der Mehrzahl junge, noch unverheiratete Männer und Lehrlinge. Nur ein Drittel der Interessierten waren Frauen. Kindern war der Besuch nicht erlaubt. Jugendliche hatten erst nach Abschluss der Schulpflicht, also mit 14 - 15 Jahren, Zugang. Die Nachfrage war so stark, dass jeder Leser nur einmal in der Woche Bücher ausleihen durfte. 1897 zog die Bibliothek mit nun 4.200 Bänden in die Luisenstraße 20. Sie wurde in „Öffentliche Lese- und Bücherhalle“ umbenannt und 1901 von der Stadt DA übernommen. Der Leiter Karl Noack erhielt 1908 den Titel „Stadtbibliothekar“. Die Gründer der Bibliothek hatten – entsprechend dem Volksbildungsgedanken jener Zeit – fortschrittliche soziale und pädagogische Absichten: Auch dem einfachen Volk sollten Bücher zur Erbauung und Bildung bereitgestellt werden, um es von unnützem oder schädlichem Zeitvertreib wie Alkoholgenuss oder „Straßensteherei“ abzuhalten. Diese pädagogischen Ziele spiegelten sich – allerdings in reichlich autoritärer Ausprägung – in der Form der Schalterbibliothek wider: Die Leser standen vor einer holzverkleideten Wand mit einem offenen Schalterfenster, hinter dem der Bibliothekar stand. Der Leser trat vor den Schalter, nannte seinen Lesewunsch, und der Bibliothekar holte das passend scheinende Buch. Er traf meist die Auswahl! Die Ausleihe war auf einen Roman und ein belehrendes Buch pro Woche beschränkt, und das nicht nur wegen des zu kleinen Bestands, sondern weil die Bibliothekare andererseits „ungesunde Vielleserei“ verhindern wollten.

1924 zog die Bibliothek in die Pädagogstraße 1 um. Der Bestand war auf 28.000 Bände angewachsen. Die Schalterbibliothek wurde abgelöst von der Thekenbibliothek, die dem Leser zwar einen Blick auf die Regale erlaubte, den Zugang dorthin jedoch nach wie vor verstellte. Dieses Ausleihverfahren prägte für lange Zeit das Berufsbild der Bibliothekare: Zerberusse vor dem Bücherschatz, die dem eingeschüchterten Leser den Lesestoff zuteilten. Zu dieser Form der – wenn auch pädagogisch gemeinten – Bevormundung kam in Deutschland politische Einflussnahme in Bezug auf die Auswahl der Bestände. Das Bibliothekspersonal leistete hierbei häufig willfährige Dienste: Lange vor 1914 schafften Bibliotheken größere Bestände an kriegsverherrlichender Literatur an. Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten stellten Bibliothekare der Darmstädter Stadtbibliothek in vorauseilendem Gehorsam bereits im März 1933 Listen der zu entfernenden Bücher zusammen, bevor die entsprechende Verordnung überhaupt erlassen wurde.

Entwicklung nach 1945
Nach der Zerstörung in der Brandnacht nahm die Stadtbibliothek 1945 mit einem Startbestand von 1.200 Bänden ihren Betrieb in der Goetheschule als traditionelle Thekenbibliothek wieder auf. Erst 1964 wurde sie mit der Eröffnung der neuen Zentrale im Justus-Liebig-Haus nach angelsächsischem Vorbild in eine Freihandbibliothek mit frei zugänglichen Regalen umgewandelt. In der Kinder- und Jugendbibliothek und in den neuen Stadtteilbibliotheken Arheilgen, Bessungen, Eberstadt und Heimstättensiedlung konnten die Leserinnen und Leser von Beginn an sich ihre Lektüre selber aus den Regalen nehmen. Die veränderte Organisationsform der Ausleihe signalisierte ein neues Selbstverständnis der öffentlichen Bibliotheken: An die Stelle der gut gemeinten erzieherischen Bevormundung trat die möglichst umfassende Bereitstellung von Informationen und Medien für die mündigen Leser. 1975 konnte eine Fahrbibliothek in Betrieb genommen werden. Die Zweigstelle in der Heimstättensiedlung wurde aufgelöst und zusammen mit anderen Stadtteilen durch den Bibliotheksbus versorgt. Dafür kam 2003 in Kranichstein die vierte Stadtteilbibliothek hinzu.

1979 erfolgte die Umbenennung der früheren „Öffentlichen Lese- und Bücherhalle“ in „Stadtbibliothek“. Sie hatte nun einen Bestand von 129.500 Medien und war ein Publikumsmagnet. Die hohe Nutzung und der wachsende Bestand machten einen Erweiterungsbau dringend notwendig. Am 29.10.1994 wurde der Neubau mit der dreifach vergrößerten Publikumsfläche eingeweiht. 2004 feierte die Stadtbibliothek ihr 125-jähriges Bestehen. Mit dem Gesamtbestand von 219.000 Medien erzielte sie rund 1.278.000 Ausleihen und verzeichnete 428.500 Besuche. Mehr als 50.000 Einwohner, davon ein Drittel aus dem Umland, besaßen einen Bibliothekausweis. Das Medienangebot umfasste neben Büchern auch CDs, Videos, DVDs, CD-ROMs, Hörbücher, Zeitungen, Zeitschriften und Gesellschaftsspiele. Die Hauptstelle und die Stadtteilbibliothek Kranichstein boten bereits Internetplätze an. Im Dezember 2004 wurde der Stadtbibliothek „für ihr Gesamtkonzept, das insbesondere eine Stärkung der dezentralen Einrichtungen in den Stadtteilen beinhaltet“ der „Hessische Bibliothekspreis 2004“ verliehen.

Zwischen 2008 und 2017 stand das öffentliche Bibliothekswesen vor großen Umbrüchen: Internet, digitale Medien und die Verbreitung mobiler Endlesegeräte veränderten Lese- und Nutzungsgewohnheiten und machten neue Serviceangebote notwendig. Ab 2008 bot die Stadtbibliothek Darmstadt als erste in Hessen einen digitalen Bestand und die Möglichkeit des Downloads von zu Hause aus an. Die „virtuellen Zweigstelle“, die auch die Nutzung von Tageszeitungen und Zeitschriften in vielen Sprachen ermöglicht, erfreut sich seitdem steigender Beliebtheit. Das 2017 eingeführte RFID-Verfahren ermöglicht die eigenhändige Ausleihe und Rückgabe von Medien durch die Nutzerinnen und Nutzer. Die Auswirkungen der Finanzkrise 2010 überschatteten die finanziellen Möglichkeiten vieler Kommunen und deren Bibliotheken. 2009 wurde eine Jahresgebühr von 10 Euro eingeführt, die 2012 eingeführte neue Entgeltordnung hob die Gebühren für die Überziehung der Leihfristen an. 2013 erfolgte dann gegen viele Widerstände der Bevölkerung die Zusammenlegung der Zweigstellen in Arheilgen und Bessungen mit der Stadtteilbibliothek Kranichstein und der Hauptstelle im Justus-Liebig-Haus. Der 40 Jahre alte Bücherbus übernahm zunächst mit neuen Haltepunkten die Literaturversorgung der beiden Stadtteile. 2015 konnte ein neuer Bibliotheksbus angeschafft werden, der seitdem Stadtteile und Schulen mit Medien versorgt.
 

Im Rahmen der Flüchtlingswelle 2015 bot die Stadtbibliothek mehrsprachige Ratgeberliteratur und zwei- und mehrsprachige Bücher besonders für Kinder und Jugendliche an. Die wichtigsten Regelungen für die Bibliotheksnutzung wurden in vier Sprachen bereitgestellt. Ebenso fanden viele Einführungen zur Bibliotheksnutzung statt.
Auch die Inklusion, die allen Menschen die uneingeschränkte Teilnahme an allen Aktivitäten möglich machen soll, führte zu verschiedenen Maßnahmen. Die Stadtbibliothek prüfte ihre Räumlichkeiten auf Barrierefreiheit, die Aufstellung der Regale auf ausreichende Abstände und deren Beschriftung auf Erkennbarkeit auch von weitem. Sie gab für die wichtigsten Bibliotheksregelungen eine Broschüre in Leichter Sprache heraus, kaufte gezielt Romane in Leichter Sprache und erwarb Hörbücher, deren Hüllen mit Braille-Schrift beschriftet sind. Spezielle Lupen und Brillen in unterschiedlichen Stärken liegen zur Nutzung bereit. Im Zuge des demographischen Wandels wuchs die Anzahl der potentiellen Bibliotheksnutzerinnen und -nutzer, die aufgrund von Erkrankungen, Beeinträchtigungen oder altersbedingt nicht in die Bibliothek kommen können. Aus diesem Grund wurde 2017 der „Darmstädter Bibliothekskurier“ ins Leben gerufen. Dieses Service-Angebot wurde möglich durch eine Kooperation zwischen der Stadtbibliothek, der Bürgerstiftung der HEAG, dem Ehrenamt für Darmstadt und der Carsharing-Firma ‚book ‚n‘ drive‘. Der Bibliothekskurier bringt Menschen, die nicht mehr selbständig mobil sein können Bücher, Filme und Zeitschriften aus dem Bestand der Stadtbibliothek direkt nach Hause. Ein Video erklärt, wie der Service funktioniert.

In Zeiten des technologischen Wandels und der gesellschaftlichen Umbrüche legt die Stadtbibliothek besonderen Wert darauf, eine öffentliche Institution zu sein, die Demokratie, Meinungs- und Informationsfreiheit sowie Chancengleichheit im Sinne des Grundgesetzes fördert, Medien- und Informationskompetenz für den lebenslangen selbständigen Wissenserwerb vermittelt, Orientierungshilfe bei der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben bietet, die Bewältigung von sozialen Problemen sowie die Freizeitgestaltung in allen Lebensphasen unterstützt und Grundlagen für Lese- und Sprachkompetenz durch intensive Leseförderung schafft. Diese Leitlinien werden auch durch das Hessische Bibliotheksgesetz von 2010 gestärkt, das die Bedeutung und die Funktionen der Öffentlichen Bibliotheken festschreibt. Das Gesetz ordnet Bibliotheken den Bildungseinrichtungen zu und stellt ihre Bedeutung als Bildungspartner heraus. Vielfältige, auf die Bedürfnisse der Leserinnen und Leser abgestimmte Serviceangebote, regelmäßige Kundenbefragungen und Fortbildungen für die Beschäftigten bildeten die Grundlage für eine stärkere Kundenorientierung.