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Böhme, Gernot

Philosoph, Direktor des Instituts für Praxis der Philosophie
* 03.01.1937 Dessau
† 20.01.2022 Darmstadt
Gernot Böhme studierte zunächst Naturwissenschaften (Mathematik und Physik), doch vermittelt durch Carl Friedrich von Weizsäcker (1912-2007) kam er schon bald zur Philosophie. Es folgte eine klassische Gelehrtenlaufbahn: 1966 Promotion in Hamburg, wissenschaftlicher Assistent und Mitarbeiter, u.a. am Max-Planck-Institut zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen Welt in Starnberg, 1973 Habilitation in München, 1977 bis 2002 Professor an der TU Darmstadt mit zahlreichen Aufgaben im Forschungsfeld der gesellschaftlichen Auswirkungen von Technik. Gastprofessuren führten ihn u.a. nach Japan und Amerika.

Böhmes umfangreiches Werk ist breit aufgefächert und war anfänglich von der interdisziplinären Technik- und Wissenschaftsphilosophie bestimmt, z.B. durch Werke wie „Alternativen der Wissenschaft“ (1980), „Soziale Naturwissenschaft. Wege zur Erweiterung der Ökologie“ (1985) oder Arbeiten gemeinsam mit anderen zur Finalisierung der Wissenschaften. Seit den 1980er Jahren setzte Böhme sich dann intensiv mit zahlreichen Klassikern auseinander. Ihn beschäftigte „Der Typ Sokrates“ (1988), Platon und Kant, aber auch Goethe. In der Entwicklung seiner eigenen Philosophie knüpfte Böhme an die von Hermann Schmitz (1928-2021) begründete Neue Phänomenologie an und wurde zu einem bedeutenden Interpreten dieses Ansatzes. Böhme entwickelte eine eigene Leibphilosophie und prägte die Definition vom Leib als Natur, die wir selbst sind. Er verstand „Leibsein als Aufgabe“ (2003) und verfolgte eine „Ethik leiblicher Existenz“ (2008). Durch eine international rezipierte Lehre von den Atmosphären hat Böhme ebenso in der Ästhetik neue Akzente gesetzt, u.a. mit seiner „Theorie des Bildes“ (1999), seinen „Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre“ (2001) und maßgeblich durch sein Buch „Atmosphäre. Essays zur neuen Ästhetik“ (7. Aufl. 2013). Seine anthropologisch fundierte Ethik berührte immer wieder existenzielle Themen und richtete sich im Spätwerk zunehmend auf das „Gut Mensch sein“ (2016). Bis zuletzt trat Böhme als Kritiker der technischen Zivilisation auf. Er forderte eine Besinnung auf „Analoge Kompetenzen im digitalen Zeitalter“ (2022) und eine Rückgewinnung von Gegenwärtigkeit im persönlichen Leben.

In seiner „Einführung in die Philosophie“ (1994) legte Böhme dar, dass Philosophie nicht nur Wissenschaft, sondern auch Weltweisheit und Lebensform ist. Böhme war kritisch, auch bezogen auf sein eigenes Berufsfeld, und zugleich mutig und widerständig, z.B. durch sein Buch „Das Andere der Vernunft“ (1983, mit seinem Bruder Hartmut) oder 1984 durch Mitentwicklung der auf die moralische Haltung von Wissenschaftler*innen zielenden Darmstädter Verweigerungsformel, aber ebenso durch öffentliches und teils politisches Engagement. Böhme war tief in den europäischen Wissenschaftstraditionen verankert, aber orientierte sein eigenes Denken auch an der Erkenntnis einiger ihrer Desiderata. Dabei suchte er stets nach Möglichkeiten, um Fehlentwicklungen entgegenzuwirken.

Nach seiner Emeritierung initiierte Böhme 2005 die Gründung des Instituts für Praxis der Philosophie (IPPh) und sah sich in der Tradition der 1920 von Hermann Keyserling (1880-1946) gegründeten Schule der Weisheit. Philosophie sollte zur moralischen Existenz beitragen und praktische Wirksamkeit durch Selbstkultivierung und gesellschaftliche Initiativen entfalten. 17 Jahre lang wirkte Böhme als Direktor des Instituts, das von Ute Gahlings weitergeführt wird.
Ehrenamtlich engagierte sich Gernot Böhme von 2010 bis 2020 außerdem als Vorsitzender der Darmstädter Goethe-Gesellschaft.