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Kriegel, Volker

Jazzmusiker, Gitarrist, Zeichner, Schriftsteller
* 24.12.1943 Darmstadt
† 14.06.2003 San Sebastián, Spanien
Volker Kriegel wurde Heiligabend 1943 in der Waldkolonie geboren. Sein Großvater hatte für die Bahn gearbeitet und betrieb im Dornheimer Weg einen Kolonialwarenladen. Seine Großmutter war in der Nachbarschaft als die „Öl-Lisett“ bekannt, weil sie die mitgebrachten Kännchen mit Öl auffüllte. Kriegels Vater war Vermessungsingenieur im Ministerium in Wiesbaden, und so machte es Sinn, dass die Familie 1953 dorthin umzog.

Zum Jazz kam Volker Kriegel erst dort, vielleicht durch die sprichwörtliche Klampfe, die er bei den Pfadfindern erlebte. Bald jedenfalls entdeckte er seine ersten Helden, Gitarristen wie Barney Kessel und Joe Pass. Er spielte mit älteren Musikern aus der Region und wurde insbesondere im Frankfurter Jazzkeller heimisch. In Mainz war die Katakombe ein beliebter Spielort, in Darmstadt der Jam Pott in der Alexanderstraße (Jazz in Darmstadt). Dort trat Kriegel anfangs mit seinem Trio auf, dem am Schlagzeug das Darmstädter Urgestein Lothar Scharf angehörte, später mit verschiedenen eigenen Bands. Und 1965, nachdem Volker Kriegel geheiratet hatte, zog das junge Paar zurück in sein Geburtshaus im Dornheimer Weg. Drei weitere prägende Jahre verbrachte er hier, während er tagsüber in Frankfurt studierte – unter anderem bei Theodor W. Adorno –, und abends in den Jazzkeller ging. Die Nachbarn kannten ihn ja noch als Kind, und als das junge Paar eine Tochter bekam, war es selbstverständlich, dass der Friseur von gegenüber auf sie aufpasste.

1968 sah er im Fernsehen einen Mitschnitt des Gary Burton Quartetts bei den Berliner Jazztagen und erinnerte sich später: „Diese Musik fuhr mir wie eine beglückende Offenbarung in die Herzgrube.“ Etwa zur selben Zeit begann er, mit dem amerikanischen Vibraphonisten Dave Pike zu spielen. Der machte zwar nur bedingt Jazzrock, pflegte aber eine musikalische Haltung, die der Komplexität des Free Jazz der 1960er Jahre eine neue Sanglichkeit zugestand und sich überhaupt durch einen swingenden Groove auszeichnete. Im Dave Pike Set gab es swingend-boppige Themen, indisch angehauchte Stücke, in denen Kriegel auf der Sitar zu hören ist, futuristische Kompositionen, die wie der Soundtrack zu einem Science-Fiction-Film wirken, deutlich von der Popmusik der Zeit beeinflusste Themen, die Pike mit virtuosen Improvisationspassagen mischt, sowie Titel, in denen das Quartett die Strukturen schon mal auflöst, um die frei gestalteten Passagen dann gleich wieder mit einem eingängigen Thema einzufangen.

Unter eigenem Namen nahm Kriegel 1972 die Platte Inside: Missing Link auf, deren Musik eher auf den melodischeren Beat der 1960er Jahre verweist denn auf die härteren Gangarten des Rock. An jeder Stelle aber hört man, was alle der Musiker eint: die Sanglichkeit der Themen, die Verlässlichkeit der Rhythmik, die durchgängig in time bleibt und dennoch im Soundeindruck komplex und vielfältig daherkommt. Seit 1971 wirkte Kriegel in der Band Spectrum mit, die seine Erfahrungen mit dem Dave Pike Set auf eine Besetzung ohne Vibraphon herunterbrach. Mitte der 1970er Jahre gründete er wiederum in ähnlicher Besetzung sein Mild Maniac Orchestra mit Musikern, zu deren musikalischer Sozialisation, wie Kriegel sich später erinnerte, entweder Beat-, Rock- oder Soulbands gehörten, oder die mühelos zwischen den stilistischen Welten wanderten.

1976 wurde Kriegel Mitglied im United Jazz + Rock Ensemble, das über die nächsten fast drei Jahrzehnte die Fahne einer Verbindung von Jazz- und Rockelementen hochhielt, auch wenn sie nach außen wohl eher als Jazz- denn als Rockformation wahrgenommen wurde. In einem Artikel über seine Experimente im Zwischenfeld zwischen Jazz und Rock benennt Kriegel gerade die Öffnung zum Rock in den 1970er Jahren als Beginn des Überschreitens von Schubladen. Und so war es nur folgerichtig, dass Kriegel, Wolfgang Dauner, Albert Mangelsdorff, Ack van Rooyen und der Regisseur Werner Schretzmeier bald darauf die Plattenfirma Mood Records gründeten, die anfangs nur eine Platte des United Jazz + Rock Emsembles veröffentlichen sollte, bald aber zu einem wichtigen Label für den aktuellen deutschen Jazz wurde. Mood scherte sich wenig um Genregrenzen und brachte Musik zwischen modernem Mainstream, Rockjazz, experimenteller elektronischer Musik und Popmusik heraus, daneben aber auch Platten mit Lyrik und Jazz oder avancierter Volksmusik der Biermösl Blosn.

Nach einer schweren Krebserkrankung zog sich Kriegel Mitte der 1990er Jahre weitgehend vom Musikmachen zurück, blieb aber weiter aktiv als satirischer Erzähler, anspruchsvoller Übersetzer, Cartoonist mit scharfem Strich und kritischer Beobachter. Es mag in der Darmstädter Waldkolonie gewesen sein, dass Volker Kriegel seine Nachbarn mit Argusaugen beobachtete und dabei jene Beobachtungsgabe schärfte, die sich in seinen Zeichnungen und Geschichten wiederfindet. Bei Adorno hatte er sich mit der Frankfurter Schule auseinandergesetzt, als Zeichner und Essayist stand er der Neuen Frankfurter Schule näher. Sein Buch über den Rock 'n' Roll König (1982), der ständig den Einsatz verpasst, war weit mehr als ein Kinderbuch, es folgten nicht weniger erfolgreiche Bücher wie etwa Olaf der Elch (1999) oder Erwin mit der Tröte (2002). Seine Cartoons erschienen im Schweizer Literaturmagazin Der Rabe, er schuf den Zeichentrickfilm Der Falschspieler (1979), produzierte Beiträge für Funk und Fernsehen, darunter ein einstündiges Feature über 25 Jahre Jazzkeller Frankfurt (1978) und war als Übersetzer tätig.

Kriegel starb 2003; seine künstlerische Arbeit bleibt bis heute präsent. Seine Kompositionen werden von jungen Musikerinnen und Musiker interpretiert. Sein zeichnerischer Nachlass befindet sich im Wilhelm-Busch-Museum in Hannover. An seinem Geburtshaus in der Waldkolonie erinnert seit 2021 eine Plakette an den früheren Bewohner.

Tonträger-Veröffentlichungen: Unter eigenem Namen (Auswahl): With a Little Help from my Friends (Liberty 83065), 1968; Spectrum (MPS 15301), 1971; Inside: Missing Link (MPS 15362), 1972; Mild Maniac (MPS 15403), 1974; Topical Harvest (MPS 15471), 1975; Elastic Menu (MPS 15517), 1977; Houseboat (MPS 15535), 1978; Long Distance (MPS 15549), 1979; Journal (mood 33.605), 1981; Schöne Aussichten (mood 33.617), 1983; Palazzo Blue (mood 33.608), 1989. Mit dem United Jazz and Rock Ensemble (Auswahl): Live im Schützenhaus (mood 33.609), 1977; The Break Even Point (mood 33.619), 1979; Live in Berlin (mood 28.628), 1981; United Live Opus Sechs (mood 33.621), 1984; Round Seven (mood 33.606), 1987; na endlich! (mood 6382), 1992; die neunte von United (mood 6472), 1996; UJRE plays Volker Kriegel (mood 6692), 2002. Als Sideman (Auswahl): Emil Mangelsdorff: Swinging Oil Drops (L+R Records 110105-0019), 1966; Joachim Kühn & Rolf Kühn – Bloody Rockers (BYG 529 009), 1969; Dave Pike Set: Noisy Silence – Gentle Noise (MPS 15215-ST), 1969; „Don Sugarcane“ Harris: Got the Blues (MPS 21 21283-1), 1972.

Lit.: Arnold Jay Smith: Profile. Volker Kriegel, in: Down Beat, 44/3 (10. Feb.1977), S. 32-33; Volker Kriegel: Jazz & Rock, in: Burghard König (Hg.): Jazzrock. Tendenzen einer modernen Musik, Reinbek 1983, S. 35-77; Volker Kriegel: Adorno und der Jazz. Eine Anekdote, in: Der Rabe, #14 (1986), S. 20-22; Volker Kriegel: Unser Jazz und unsere Kritiker, in: Der Rabe, #14 (1986), S. 37-56; Rolf Jäger: Volker Kriegel, in: Jazzthetik, 11/7-8 (Jul./Aug.1997), S. 28-31; Wolfram Knauer: Play yourself, man! Die Geschichte des Jazz in Deutschland, Stuttgart 2019 (Reclam), S. 360-362.