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Völkerschauen

Völkerschauen waren eine im Zeitalter des Kolonialismus in den USA und Europa beliebte Art der Volksbelustigung, bei der professionelle Darsteller aus den nach europäischem Maßstab fremden und exotischen Völkern mit lebenden Bildern und sonstigen Auftritten die Sitten, Gebräuche und Trachten ihres Volks oder Stamms vorführten. Völkerschauen waren in der Regel Teil eines Zirkusunternehmens, mit dem zusammen sie auf Tournee gingen, daneben gab es eigenständige Veranstalter, die ausschließlich mit Völkerschauen durch die Lande zogen. Die Völkerschauen genossen an ihrem Veranstaltungsort meist eine sensationslüsterne Aufmachung, wie etwa die behauptete kannibalische Abstammung bei australischen Aborigines, die mit der Lebenswirklichkeit der oft assimilierten Wilden-Darsteller nichts mehr zu tun hatte. Vorreiter der Ausrichtung von Völkerschauen war der amerikanische Zirkusunternehmer Phineas Taylor Barnum (1810-1891), der erstmals 1836 eine Völkerschau organisierte. Als deutscher Pionier der ethnografischen Schaustellung gilt der Tierhändler, Zirkusunternehmer und Begründer von zoologischen Gärten Carl Hagenbeck (1844-1913). Seit 1875 hatte er mehrere Gruppen von Lappländern, Nubiern und Eskimos unter Vertrag, die in seinem Auftrag die europäischen Großstädte bereisten. Im Gegensatz zu Hagenbeck beruhte das Unternehmen des US-Amerikaners Robert A. Cunningham (1837-1907) ganz auf Völkerschauen. Cunningham verfügte über ausgezeichnete Beziehungen in der britischen Kolonialverwaltung, wodurch er jederzeit in der Lage war, die beim europäischen Publikum wegen ihrer Bumerang-Wurfkünste besonders beliebten Gruppen australischer Aborigines aufzubieten. Während das zirzensische Moment bei den genannten Völkerschauen nicht die Hauptrolle spielte, stand es bei den amerikanischen Wildwestshows nur umso deutlicher im Vordergrund. Keine dieser Wildwestshows kam ohne Cowboys und Indianer aus, die mit oft waghalsigen Vorführungen ihre Reit- und Schießkünste unter Beweis stellten. Wegen ihrer Einbeziehung von indianischen Stammesmitgliedern rechnet die völkerkundliche Literatur auch diese Wildwestshows zu den Völkerschauen.

Die bislang für DA recherchierten und nachgewiesenen Völkerschauen fallen sämtlich in den Zeitraum von 1880-1900. Im Dezember 1880 gastierte im Skating Rink, dem späteren Orpheum, für drei Tage eine Eskimofamilie aus Labrador. Sie gehörte eigentlich zu einer größeren Truppe mit Auftritten im benachbarten Frankfurt/Main, war aber für eine kurze Schaustellung in DA abgestellt worden. Die „Australischen tätowierten Cannibalen und Bumerangschleuderer“ aus Robert A. Cunninghams Tournee traten Ende April 1885 im Musiksaal des Saalbaus (Festhallen) auf, „produzierten sich im Werfen des Bumerangs“ allerdings wohlweislich auf dem Exerzierplatz. Auf dem Übungsplatz an der Frankfurter Straße (Emilplatz) zeigte Anfang Mai 1891 Oberst William F. Cody, besser bekannt unter dem Künstlernamen Buffalo Bill, seine weltberühmte Indianer- und Trappershow „Buffalo Bill’s Wild West“. Einer besonderen Erwähnung Wert war den Darmstädter Tageszeitungen dabei der Auftritt der Kunstschützin Annie Oakley, die Irving Berlin 1946 in seinem Musical „Annie Get Your Gun“ verewigt hat. 1900 konnten schließlich zwei Völkerschauen in DA bewundert werden: Im April zunächst eine „Great-Wild-West-Show“ oder „Wild-America“ mit Sioux-Indianern unter Anführung ihres Häuptlings „Spotted-Tail“ und im Oktober im Orpheum die aus der deutschen Kolonie Togo herübergekommene „Togo-Karawane“.

Die Mitglieder der Völkerschauen waren meist unzureichend auf die Krankheitsgefahren des europäischen Kontinents vorbereitet. Nahezu alle hatten daher eine ungewöhnlich hohe Anzahl von Todesfällen während ihrer Gastspielreisen zu beklagen, wozu auch aus Darmstadt zwei Fälle überliefert sind. 1880 starb vor Ort das Eskimo-Mädchen Nogasak („Junges Rentier“) und 1885 verschied im Stadtkrankenhaus an den Folgen der Tuberkulose der Aborigine Jimmy aus Cunninghams australischer Völkerschau. Beide wurden auf dem Alten Friedhof beigesetzt. Mit dem Ende der europäischen Kolonialreiche, der zunehmenden Verfügbarkeit populärer und reich bebilderter ethnografischer Literatur seit Beginn des 20. Jahrhunderts, v. a. aber mit dem allmählichen Aufkommen des Massentourismus in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts verlor sich auch das Interesse an den herkömmlichen Völkerschauen. Sie leben freilich in veränderter Form auch fort in den von Tourismusveranstaltern organisierten Folkloredarbietungen Einheimischer an den exotischen Fernzielen des gegenwärtigen Massentourismus.

Lit.: Poignant, Roslyn: Professional Savages. Captive Lives and Western Spectacle, New Haven, London 2004.