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Kreis der Empfindsamen

Von 1771 bis 1773 fand sich in DA ein Freundschaftsbund zusammen, der als „Kreis der Empfindsamen“ in die Geschichte eingegangen ist. Zu Leseabenden, Mondscheinspaziergängen und Ausflügen in DAs Umgebung trafen sich Hofangestellte und deren „bürgerliche“ Freunde. Die „Gemeinschaft der Heiligen“ nannte Johann Wolfgang Goethe den Darmstädter Freundeskreis in seinem „Concerto Dramatico“ (1773). Man schwärmte für die wiederentdeckte Natur, tauschte empfindsame Briefe und Gedichte aus und interessierte sich für die zeitgenössische Literatur, so für Laurence Sternes „Sentimental Journey“, der der literarischen Strömung dieser Zeit ihren Namen gab. Zum „Kreis der Empfindsamen“ gehörte die Hofdame Henriette Alexandrine von Roussillon (1745-1773), von den Freunden nach der Musengöttin der Astronomie „Urania“ genannt. Sie kam 1769 als Ehrenfräulein der Herzoginwitwe Caroline von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld, der Mutter der Großen Landgräfin Karoline, nach DA. Auch ihre engste Freundin, die Hofdame Louise von Ziegler (1747-1814), alias „Lila“, fieberte den gefühlvollen Treffen in DA entgegen. Sie stand im Dienst des Landgrafen Ludwig Friedrich V. von Hessen-Homburg. Für „Lila“, die sich gerne als Schäferin verkleidete und mit ihrem Schäfchen spazieren ging, war der Darmstädter Kreis eine ersehnte Gegenwelt zu der als gefühllos und kalt empfundenen Homburger Hofetikette. Ihre leidenschaftlichen Briefe an ihre Seelenverwandten in DA unterschrieb die Hofdame mit ihrem eigenen Blut. Auch Franz Michael Leuchsenring (1746-1827), der Erzieher und Reisebegleiter des Erbprinzen Ludwig von Hessen-Darmstadt (Ludewig I.), träumte von einer nur in Freundschaft und Liebe verbundenen Gemeinschaft, in der Standesunterschiede aufgehoben waren und an die Stelle des Christentums eine Religion des Herzens trat. In der Satire „Fastnachtsspiel vom Pater Brey“ (1773) hat Goethe dem magenkranken Leuchsenring, der nur leichte Milchspeisen vertrug, ein wenig schmeichelndes Denkmal gesetzt.

Ein wichtiges Bindeglied der empfindsamen Darmstädter war der Kriegsrat und Verleger Johann Heinrich Merck. In seinem Haus und in dem des nebenan wohnenden Geheimrats und Ministers Andreas Peter von Hesse trafen sich die Freunde. Merck hatte Goethe, der in diesen Jahren häufig zu Gast in DA war, mit dem Kreis bekannt gemacht. Den „Wanderer“ nannten ihn die Freunde aufgrund seiner Rastlosigkeit. Zu den Empfindsamen hingezogen fühlte sich auch Caroline Flachsland. Seit ihrem 16. Lebensjahr lebte die verwaiste Caroline, genannt „Psyche“, im Haus ihres Schwagers Hesse, wo sie den „Dechanten“, ihren späteren Ehemann, den Philosophen, Dichter und Pfarrer Johann Gottfried Herder (1744-1803) kennen lernte. Ihre Briefe an ihren zukünftigen Mann geben Aufschluss über den empfindsamen Freundschafts- und Gefühlskult in DA. In seinem „Fels-Weihegesang an Psyche“ (1772) hat Goethe die um ihren abwesenden Verlobten trauernde Caroline besungen. Dieses Gedicht erinnert an jene emphatischen Spaziergänge, die u. a. zum Herrgottsberg, unweit des Böllenfalltors, führten. Hier wähnte man sich im „Elysium“ und erkor sich als Weihestätte einen Felsen („Goethefelsen“), in den man seinen Namen einritzte. Freundschaftlich mit den Darmstädter Empfindsamen verbunden waren Sophie von La Roche (1731-1807), Ludwig Friedrich Höpfner (1743-1797) und Johann Georg Schlosser (1737-1799), die zusammen mit Merck die kritischen „Frankfurter Gelehrten Anzeigen“ herausgaben, Cornelia Goethe (1750-1777) sowie die beiden Dichter Wilhelm Ludwig Gleim (1719-1803) und Christoph Martin Wieland (1733-1813). Inwieweit die Große Landgräfin an den Treffen der Empfindsamen teilnahm, ist nicht belegt.

Lit.: Siegel, Monika / Niessen, Stefan / Welsch, Sabine: Die Gemeinschaft der Heiligen. In: E. Merck (Hg.): Johann Heinrich Merck. Ein Leben in Freiheit und Toleranz – Zeitdokumente, Darmstadt 1991, S. 72-85; Panzer, Marita A.: Die Große Landgräfin Caroline von Hessen-Darmstadt (1721-1774), Regensburg 2005, S. 167-180.