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Gundolf, Friedrich

Dichter, Literaturwissenschaftler
* 20.06.1880 Darmstadt
† 12.07.1931 Heidelberg
„Dem lebendigen Geist“ ist das Hörsaalgebäude der Universität Heidelberg – mit nur neunjähriger Unterbrechung im Dritten Reich – nach seinem Wunsch gewidmet, und diese selbst meinte er mit der Inschrift, die seinem eigenen Werk immer Leitstern war. Der Sohn der Amalie, geb. Gunz (1857-31.10.1922) und ihres Mannes, des hoch angesehenen und ausgezeichneten Mathematikers Sigmund Gundelfinger (1846-1910), der von 1879 bis 1907 als Professor an der TH Darmstadt lehrte, wuchs daher zusammen mit seinem Bruder Ernst im elterlichen Haus im Grünen Weg 37 (Ecke Herdweg, zerstört Brandnacht 1944) auf. Übrigens sprachen beide Brüder nicht nur lebenslang hörbar mit Darmstädter Mundart: Mir war’s gnua, war Ernsts Lebensmotto, und Friedrich strömte in seinem unverfälschten Darmstädtisch über von manchmal derben Witzen und Erzählungen komischer Erlebnisse. Auch liebte er das Darmstädter Nationaldrama, E. E. Niebergalls Mundartkomödie „Der Datterich“, das er angeblich komplett auswendig rezitieren konnte, über alles.

Gundolf studierte nach dem Besuch des Ludwig-Georgs-Gymnasium erst in München, dann in Berlin u. a. bei Erich Schmidt und Gustav Roethe, entwickelte sich also genuin aus der legendären „Scherer-Schule“ – davon merkt man nachher nichts außer der perfekten Beherrschung des Handwerks. Vielmehr trieb er die eben aufkommende „Geistesgeschichte“ Wilhelm Dilthey’scher Prägung in seinem umfangreichen lit.-wiss. Werk an deren eigene Grenze. 1903 in Berlin mit einer Studie zu „Caesar in der deutschen Litteratur“ promoviert, habilitierte er sich 1911 in Heidelberg und wurde dort Privatdozent, 1916 außerordentlicher und (seit 1920) ordentlicher Professor der Literaturgeschichte. Durch seinen allzu frühen Tod (schon 1927 wurde bei ihm Magenkrebs diagnostiziert) entging er immerhin der Verfolgung und Ermordung durch die Nationalsozialisten – denn er, der (wie übrigens auch sein Bruder) unter Stefan Georges Einfluss den auf seine Herkunft aus einer südwestdeutschen jüdischen Gemeinde verweisenden Familiennamen gegen das ‚arisch‘ klingende Pseudonym ausgewechselt hatte (seine Dissertation und einige literaturgeschichtliche Publikationen bis 1910 erschienen unter dem Namen Gundelfinger), war eben von beiden Eltern jüdischer Abkunft und trat erst 1928 gemeinsam mit seiner Frau aus der jüdischen Gemeinde aus.

Schon seit dem 16.4.1899, als ihn der ältere Freund Karl Wolfskehl mit dem später von ihm immer nur „Meister“ genannten Stefan George bekannt gemacht hatte, gehörte er zum inneren Kreis des von ihm abgöttisch Bewunderten, in dessen „Blättern für die Kunst“ im Verlag Georg Bondi seine eigenen Dichtungen und im selben Verlag als eigene Bücher 1903 „Fortunat“ und 1905 „Zwiegespräche“ erschienen. Im Winter 1922/23 kam es aber über die Widmung seines Kleist-Buchs an seine spätere Frau Elisabeth Salomon (10.11.1893-13.2.1958), endgültig mit der Heirat am 4.11.1926 zum Bruch zwischen den beiden. Erst kurz vor dieser Eheschließung adoptierte Gundolf seine am 30.11.1917 geborene Tochter (sie starb am 10.9.2008) – bereits neun Jahre zuvor hatte George noch die Heirat Gundolfs mit deren Mutter, der jüdischen Pianistin Agathe Mallachow (1884-1993) verhindert.

Gundolfs kritischer Geist suchte nur nach dem großen Werk, Martin Opitz zum Beispiel tat er als Schulmeister ab, Friedrich Tieck fand er trivial, und nur die Giganten wie Caesar, dessen Weiterleben er seit seiner Dissertation 1903 in drei Büchern darstellte und Shakespeare, dessen Gesamtwerk er übersetzte und über dessen Wirkung auf die deutsche Literatur er sich 1911 habilitierte, fanden sein Interesse. Symbolgestalten ihrer Epochen entdeckte er in ihnen und in ihrer Wahrnehmung durch die Nachwelt, nahm, gewiss noch ganz unmethodisch und in den Fesseln einer seltsam durch Hegel geprägten Hermeneutik, die moderne Rezeptionstheorie und Ideologiekritik vorweg. In seiner großen Goethe-Biographie 1916 (und nachher auch noch einmal in der über Shakespeare) radikalisierte er diese Gestaltbetrachtung, unterwarf bei weitreichendem Verzicht auf biographische Details die Erkenntnis des Kunstwerks vollkommen der Künstlerpersönlichkeit und in ihr ganz dem innewohnenden Dämonischen – eine Richtung, die tatsächlich für Jahrzehnte die Literaturwissenschaft in Deutschland, (manchmal fatal) in Ausdruck und Methode leiten sollte. Als akademischer Lehrer war er durch seine Vorlesungen und Bücher so angesehen, dass er bis 1924 alle Doktoranden ablehnen konnte – weswegen Josef Goebbels, der gern durch ihn promoviert worden wäre, zu seinem gleichfalls jüdischen Kollegen Max von Waldberg gehen musste.

Bestattet wurde Friedrich Gundolf auf dem nichtjüdischen Teil des Heidelberger Bergfriedhofs. 1953 wurde die Gundolfstraße in DA nach ihm benannt. Seit 1964 verleiht die Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung jährlich den Friedrich-Gundolf-Preis.

Lit.: Der Nachlass liegt heute im Gundolf-Archiv des Institute of Modern Languages in der Senate House Library London (knappe Übersicht im Briefwechsel Gundolf mit Steiner und Curtius 1963, 6-9). Wichtigste Werke: Shakespeare und der deutsche Geist, 1911; Shakespeares Werke, dt. 1908-12; Heinrich von Kleist, 1922; Shakespeare, 1928; Goethe, 1916, 13. Aufl. 1930; Caesar. Geschichte seines Ruhms, 1924; Caesar im 19. Jahrhundert, 1926; Dem lebendigen Geist. Aus Reden, Aufsätzen und Büchern; 1962; Beiträge zur Literatur- und Geistesgeschichte; 1980. Briefwechsel: Stefan George, 1962; Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius, 1963; versch. Empfängern, 1965; Karl und Hanna Wolfskehl, 1977; Friedrich Wolters, 2009; Erich von Kahler, 2012; Elisabeth Salomon, 2015.